A. Holenstein u.a.: Schweizer Migrationsgeschichte

Cover
Titel
Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart


Autor(en)
Holenstein, André; Kury, Patrick; Schulz, Kristina
Erschienen
Baden 2018: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
CHF 39,00; € 39,00
URL
von
Barbara Lüthi, Nordamerikanische Geschichte, Historisches Institut, Universität zu Köln

Den Homo migrans gibt es, seit es den Homo sapiens gibt – darauf verweisen Historikerinnen und Historiker bereits seit mehreren Dekaden. Die Tatsache, dass Wanderungsbewegungen eine «historische Normalität» (S. 11) darstellen, ist deshalb vielleicht weniger erstaunlich. Vielmehr interessiert die Frage nach den Gründen für Migrationsbewegungen, ihren vielfältigen Formen und Ausprägungen, ebenso wie die Frage nach ihren Gestaltungsmöglichkeiten und Einschränkungen. Es ist das grosse Verdienst der Autorin Kristina Schulz und der beiden Autoren André Holenstein und Patrick Kury, eine umfassende Gesamtdarstellung der Schweizer Migrationsgeschichte aus einer transnationalen Perspektive vorgelegt zu haben. Die Schweizer Migrationsgeschichte ist eine flüssig geschriebene, hauptsächlich auf bestehender Literatur basierende Zusammenschau, die durch eine sorgfältige Auswahl an Bildern ergänzt wird. Die Leserin erfährt viele interessante Details, die eingeflochtenen Einzelschicksale machen das chronologisch angelegte Buch lebendig.

Für die Phase des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verweist André Holenstein auf verschiedene wegweisende Aspekte: In der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft stellte die «militärische Arbeitsmigration» (Reisläufer, Söldner, Militärunternehmer) die grösste Gruppe unter den Karriere- und Arbeitsmigranten dar, noch vor der «zivilen Arbeitsmigration» von Spezialisten aus Handwerk und Gewerbe.

Seit den militärischen Erfolgen der eidgenössischen Krieger in den Burgunderkriegen (1474–1477) stieg die Nachfrage der kriegführenden europäischen Mächte nach ihnen massiv an. Geopolitische Gründe spielten ebenfalls eine Rolle, etwa während des Krieges in Oberitalien, als die Rivalen Frankreich und Habsburg die benachbarte Eidgenossenschaft als militärischen Bündnispartner zu vereinnahmen suchten. Die Kapitel zur zivilen Arbeitsmigration zeigen zudem besonders deutlich, dass die Schweiz schon im Spätmittelalter in die Globalisierung der Ökonomie involviert war. Durch den Transfer und den Austausch von Rohgütern wie Baumwolle, Rohseide, Edelmetall und den Import von Kolonialwaren entwickelte sich ein kommerzielles Netz von der Schweiz bis zu den Küsten des Atlantiks, des Mittelmeeres und der Nordsee. Fernhändler wie auch Hausierer waren Teil dieser mobilen, mit Waren handelnden Gesellschaft.

Zur internationalen Migration gehörten aber auch andere Wanderer, etwa im 18. und 19. Jahrhundert die Zuckerbäcker, Chocolatiers und Kastanienröster aus den südalpinen Tälern und dem Bündnerland; Wissenschaftler als hoch qualifizierte Spezialisten, denen im Ausland oftmals ein höheres Sozialprestige zukam; oder die sogenannten Schwabenkinder, die sich als billige Arbeitskräfte vermutlich schon seit dem 17. Jahrhundert verdingten. «Flucht- und Zwangsmigration» hingegen machten zwar insgesamt für die frühe Neuzeit nur einen kleinen Teil der Migrationswanderungen aus, aber unter den Einwandernden in die Schweiz stellten die aus religiös-konfessionellen oder politischen Gründen Geflohenen bis ins 19. Jahrhundert die grösste Gruppe dar. Der Autor revidiert mit seinem Blick auf die zivile und militärische Arbeitsmigration ebenso wie auf die vielfältigen Fluchtbewegungen die Vorstellung eines Gegensatzes zwischen einer «sesshaften» Vormoderne und einem mobilen industriellen Zeitalter.

Mit der Ausbildung des modernen Nationalstaates fanden, so zeigen die von Patrick Kury verfassten Kapitel, wichtige Veränderungen statt. Der Übergang vom kantonalen zu einem bundesstaatlichen Migrationsregime während des Ersten Weltkrieges war geprägt von einer staatlichen Zentralisierung und der sogenannten «Überfremdungsfrage». Deutlich werden ab dem 19. Jahrhundert auch die immer weitreichenderen geografischen und räumlichen Dimensionen von kollektiven und individuellen Wanderungen im Zuge der «beschleunigten Globalisierung»: von den aus Osteuropa flüchtenden Juden, von denen sich nur ein kleiner Teil in der Schweiz niederliess, über die Bildungsmigration, die auch Studentinnen aus Osteuropa umfasste, bis hin zur Auswanderung in alle Teile der Welt im Zuge von Arbeits- und Siedlungsmigration, auch im Kontext kolonialer Unternehmen. Erkennbar wird, dass Migration die Geschichte der Schweiz mitgestaltet hat, aber ebenso Schweizer Migrantinnen und Migranten andere Gesellschaften. Die Gründung von bekannten Schweizer Firmen durch Einwanderer (Bally, Nestle, Maggi) und der Bau wichtiger Verkehrsinfrastrukturen im Land selbst (Gotthard- und Simplontunnel) sind nur einige der Beispiele, die der Autor erwähnt.

Die von Kristina Schulz geschriebenen Kapitel machen die zunehmende Bedeutung von übernationalen Akteuren und Abkommen in der Folge des Zweiten Weltkrieges, gerade auch im Bereich der Flüchtlingspolitik, deutlich – angefangen von der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) bis hin zum Schengener Abkommen und den Dublin-Bestimmungen –, die die Schweiz bis zu einem gewissen Grad in eine europäische und globale Entwicklung der Migrationsregelung integrierten. Wesentlich für die Schweizer Migrationspolitik war aber auch der Übergang von einem eher liberalen zu einem restriktiven Asylgesetz, das neue Massstäbe setzte. Diese Veränderung fand während der 1980er und 1990er Jahre statt, vor dem Hintergrund einer steigenden Zahl an Asylsuchenden aus dem «globalen Süden», der diskursiven Verfestigung des sogenannten «Asylmissbrauchs» und des «permanenten Wahlkampfs» in Form von Initiativen seitens rechtspopulistischer Kräfte, was zu konstanten Verschärfungen in der Asylgesetzgebung führte. Ebenso entwickelte sich aber in dieser Zeit ein ziviler Widerstand seitens verschiedener Solidaritätsbewegungen – noch immer ein stark unterbeleuchtetes Kapitel der Schweizer Geschichte. Noch deutlicher als ihre Co-Autoren in den vorangehenden Kapiteln hebt die Autorin die Bedeutung von Geschlecht – etwa im Kontext der Lagerinternierung während des Zweiten Weltkrieges oder der «Care-Migration» im neuen Jahrtausend – hervor. Zudem widerspricht der für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisbar steigende Anteil von Frauen bei der Arbeitsmigration dem Bild des männlichen und alleinstehenden Gastarbeiters.

Durch differenzierte Analysen gelingen dem Autorenkollektiv immer wieder Korrekturen gängiger, zu Stereotypen geronnener Vorstellungen von Migration. Einige interessante, die gesamte Schweizer Migrationsgeschichte prägende Faktoren sind hier erwähnenswert: Die «Fluchtmigration» hatte zum einen erinnerungspolitische Auswirkungen auf die Schweizer Gesellschaft und die Flüchtenden selbst. Zum anderen stellte sie in verschiedenen Jahrhunderten immer wieder eine finanzielle, logistisch-organisatorische und zuweilen auch politisch-kulturelle Herausforderung dar. In Zeiten, in denen von einer «Flüchtlingskrise» geredet wird, ist es hilfreich daran zu erinnern, dass Fluchtmigration – oftmals auch verbunden mit Phasen von Ausschaffungen – fast durchweg einen wichtigen Teil der Schweizer Geschichte darstellt. Ebenso hervorzuheben sind die zahlreichen Hinweise auf die Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten über die Jahrhunderte, die von deren Handlungsspielräumen zeugen.

Das Buch ist für ein allgemeines, historisch interessiertes Publikum konzipiert, es setzt kein Spezialwissen voraus. Theoretisch wird kein Neuland betreten, der Band dient vielmehr als Grundlage für weitere Forschungsarbeiten. Hier wären verschiedene Felder zu nennen: etwa (der Forderung verschiedener Historikerinnen und Historiker folgend) der stärkere Einbezug von race auch jenseits der für die Schweiz wichtigen antisemitischen Ausformung. Eine klarere Konturierung intersektionaler Zugänge könnte sich hier als durchaus fruchtbar erweisen und verdeutlichen, wie auf vielfältige Art und Weise die Problematisierung bestimmter Mobilitäten als «Migration» Fragen von Differenz und «Fremdartigkeit» zwar in gesetzlichen oder «kulturellen» Begrifflichkeiten konstruiert, aber dennoch entlang der Logiken von intersektionalen Kategorien organisiert ist. Auch Fragen von Wissen über und von MigrantInnen, der zunehmenden und sich verändernden Bedeutung von Grenzen und der immer stärker fragmentierenden «Labels» im Kontext der Migrationsregulierung sind weitere Aspekte, die einer vertieften Untersuchung bedürfen. Grundsätzlich stellt sich auch die Frage, wie sich der Band mit Bezug auf die in der letzten Dekade vermehrt geforderte «De-Migrantisierung» positioniert – das heisst: Migration anstatt als separates Objekt von Forschung und Gesellschaft als integralen Aspekt der Erforschung von Gesellschaften und der Welt ernst zu nehmen, einhergehend mit einer «De-Migrantisierung» der individuellen Menschen. Das vorliegende Werk könnte für eine solche Debatte einen wichtigen Ausgangspunkt darstellen.

Zitierweise:
Barbara Lüthi: André Holenstein, Patrick Kury, Kristina Schulz: Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Baden: Hier + Jetzt, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 459-461

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 459-461

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